Eigenbedarfskündigung auch ohne alle Mitmieter wirksam?
Der Fall: Vier Jahrzehnte nach der Trennung
Im Jahr 1981 mietete eine Frau gemeinsam mit ihrem damaligen Ehemann eine Wohnung an. Doch bereits im Jahr 1986 zerbrach die Ehe. Der Mann zog aus der Wohnung aus, ließ sich scheiden und verließ Deutschland dauerhaft in Richtung Serbien. Die Frau blieb in der Wohnung und gründete mit ihrem neuen Ehemann eine Familie. Gemeinsam mit ihm und dem mittlerweile erwachsenen Sohn lebte sie weiterhin in dem Mietobjekt.
Im Jahr 2022 erwarben neue Eigentümer die Immobilie. Sie kündigten das Mietverhältnis wegen Eigenbedarfs. Die neuen Vermieter benötigten die Wohnung für sich selbst, da sie mehr Platz für Heimarbeit brauchten und eine Familie gründen wollten. Allerdings sprachen sie die Kündigung nur gegenüber der Mieterin aus, nicht aber gegenüber ihrem längst ausgezogenen Ex-Ehemann. Die Mieter wehrten sich gegen die Kündigung mit dem Argument, dass das Mietverhältnis mit beiden ursprünglichen Mietern hätte gekündigt werden müssen.
Ist die Kündigung unwirksam ohne alle Mitmieter?
Die zentrale Rechtsfrage lautete: Muss eine Kündigung gegenüber allen ursprünglichen Mietvertragsparteien ausgesprochen werden, auch wenn einer von ihnen seit Jahrzehnten ausgezogen ist und im Ausland lebt? Grundsätzlich gilt tatsächlich, dass ein Mietvertrag mit mehreren Mietern nur wirksam gekündigt werden kann, wenn alle Vertragspartner die Kündigung erhalten. Dies dient dem Schutz der Mietergemeinschaft.
Allerdings gibt es eine wichtige Ausnahme: Wenn es treuwidrig wäre, sich auf die formale Unwirksamkeit der Kündigung zu berufen, muss die Kündigung nicht an alle ursprünglichen Mieter gerichtet werden. Das Gericht prüfte daher, ob die Mieterin sich in diesem Fall treuwidrig verhielt, indem sie sich auf die fehlende Kündigung gegenüber ihrem Ex-Mann berief.
Treuwidriges Verhalten nach vier Jahrzehnten
Das Landgericht Darmstadt entschied klar: Die Mieterin verhält sich treuwidrig. Seit knapp vier Jahrzehnten bestand das Mietverhältnis mit dem früheren Ehemann nur noch auf dem Papier. Es wurde nicht mehr gelebt und tangierte keine schutzwürdigen Belange mehr. Die rein formale Rechtsposition könne nicht dazu dienen, eine ansonsten wirksame Kündigung zu verhindern.
Besonders realitätsfern erschien dem Gericht die nachgeschobene Begründung der Mieterin, sie habe gewollt, dass ihr Ex-Mann im Mietvertrag bleibe, damit er weiterhin für mögliche Ansprüche aus dem Mietverhältnis mithaften könne. In Anbetracht der Zeitspanne von vier Jahrzehnten, der neuen Familie und der Tatsache, dass die Mieterin in der Verhandlung einräumte, nicht mit ihrem Ex-Mann zusammenleben zu wollen, wertete das Gericht dies als reine Schutzbehauptung. Zudem hatte die Mieterin keinen Kontakt mehr zu ihrem früheren Ehemann.
Eigenbedarf wegen Familienplanung zulässig
Die Mieter argumentierten weiter, die Eigenbedarfskündigung sei eine unzulässige Vorratskündigung, da die Vermieter ihren Bedarf mit einer künftigen Familienplanung begründeten. Das Gericht folgte dieser Argumentation nicht. Der Wunsch nach Familiengründung sei kein unbestimmtes Interesse, sondern ein konkreter und nachvollziehbarer Eigenbedarfsgrund. Dies entspricht der höchstrichterlichen Rechtsprechung, wonach auch künftige Familienplanungen einen Eigenbedarf rechtfertigen können.
Zusätzlich benötigten die Vermieter mehr Platz für Heimarbeit. Dieser Bedarf wurde durch die gerichtliche Beweisaufnahme bestätigt. Selbst wenn man den Kinderwunsch als zu unsicher ansehen würde, bliebe der Eigenbedarfsgrund hinsichtlich des Arbeitsplatzes bestehen.
Keine Baugenehmigung zum Kündigungszeitpunkt erforderlich
Ein weiterer Streitpunkt war, dass die Vermieter zum Zeitpunkt der Kündigung noch keine gültige Baugenehmigung für ihr Bauvorhaben hatten. Sie wollten das bestehende Haus abreißen und ein neues errichten. Die Mieter sahen darin einen Grund für die Unwirksamkeit der Kündigung.
Das Gericht stellte jedoch klar: Wenn der Vermieter die Wohnung vor dem Selbstbezug sanieren oder modernisieren will und hierfür eine Baugenehmigung erforderlich ist, muss diese zum Zeitpunkt der Kündigung noch nicht vorliegen. Entscheidend ist, dass die Planungen ein Stadium erreicht haben, in dem beurteilt werden kann, ob die Verwirklichung des Plans eine Kündigung rechtfertigt.
Im konkreten Fall verfügten die Vermieter bereits über die Planungen der Voreigentümer, für die im Jahr 2016 eine Abbruch- und Baugenehmigung erteilt worden war. Diese war zwar zeitlich abgelaufen, bildete aber die Grundlage für die neuen Pläne. Ein Architekt bestätigte als Zeuge, dass auch die aktuelle Planung genehmigungsfähig sei und nur marginal von der ursprünglichen Planung abweiche. Das Gericht hielt es für verständlich, dass die Vermieter zunächst den Ausgang des Räumungsverfahrens abwarten wollten, bevor sie zeitlich befristete Genehmigungen einholten.
Unzureichende Bemühungen um Ersatzwohnraum
Die Mieter beriefen sich außerdem auf eine unzumutbare Härte. Sie argumentierten, dass sie keinen angemessenen Ersatzwohnraum finden könnten. Nach der gesetzlichen Regelung müssen sich Mieter ernsthaft und nachhaltig um Ersatzwohnraum bemühen. Dies umfasst die Nutzung von Kontakten zu Verwandten und Bekannten, die Einschaltung öffentlicher und privater Stellen sowie die Inanspruchnahme geeigneter Medien.
Das Gericht kam zu dem Ergebnis, dass die Mieter diese Pflicht nicht erfüllt hatten. In einem Zeitraum von 35 Monaten hatten sie sich lediglich um 23 Wohnungen bemüht. Das entspricht weniger als einer Bewerbung pro Monat. Dies könne nicht als ernsthaftes und intensives Bemühen angesehen werden, so das Gericht. Zudem legten die Mieter keinerlei Nachweise für ihre angeblichen Kontakte zu Maklern oder ihre Nutzung von Online-Plattformen vor.
Besonders kritisch sah das Gericht die Suchkriterien der Mieter. Sie suchten im Rhein-Main-Gebiet nach einer barrierefreien Vier-Zimmer-Wohnung mit einer Warmmiete bis zu einem bestimmten Betrag. Diese Anforderungen erschienen dem Gericht angesichts des angespannten Wohnungsmarktes illusorisch. Auch sei eine Vier-Zimmer-Wohnung nicht erforderlich, selbst wenn der mittlerweile 28-jährige Sohn noch im gemeinsamen Haushalt lebe. Die Mieter hätten zudem weitere Medien wie Printanzeigen nutzen, selbst ein Wohnungsgesuch aufgeben oder ihren Freundes- und Bekanntenkreis aktivieren können.
Gesundheitliche Probleme rechtfertigen keine Härte
Kurz vor der Berufungsverhandlung erhielt einer der Mieter die Diagnose eines Bauchspeicheldrüsenkrebses. Ihm wurde ein Tumor entfernt und er musste sich einer mindestens sechsmonatigen Chemotherapie unterziehen. Die Mieterin litt zudem an starkem Übergewicht und Diabetes. Die Mieter argumentierten, dass ihnen ein Umzug aus gesundheitlichen Gründen nicht zuzumuten sei.
Das Gericht prüfte diese Argumente sorgfältig, kam aber zu dem Ergebnis, dass keine unzumutbare Härte vorlag. Zwar stellte die Krebsdiagnose und die vorgesehene Behandlung zweifellos eine erhebliche psychische und physische Belastung dar. Allerdings handelte es sich um eine ergänzende Chemotherapie nach einer erfolgreichen Operation, die das Risiko eines erneuten Auftretens senken sollte.
Entscheidend war für das Gericht, dass die Mieter nicht ausreichend dargelegt hatten, warum konkret ein Umzug aus gesundheitlichen Gründen unmöglich sei. Sie würden von ihrem erwachsenen Sohn und weiteren Kindern unterstützt, sodass der erkrankte Mieter bei einem Umzug nicht selbst körperlich aktiv werden müsse. Auch bei der Mieterin mit Übergewicht und Diabetes waren keine konkreten Umstände vorgetragen, die einen Umzug unzumutbar machen würden.
Hinzu kam, dass die derzeitige Wohnung unstreitig nicht barrierefrei war und somit für beide Mieter aufgrund ihrer gesundheitlichen Einschränkungen ohnehin nicht mehr optimal geeignet war. Nach eigenen Angaben suchten die Mieter gerade deshalb nach barrierefreien Räumlichkeiten.
Was bedeutet das Urteil für Sie?
Dieses Urteil zeigt mehrere wichtige Aspekte des Mietrechts auf. Erstens können Vermieter eine Eigenbedarfskündigung auch dann wirksam aussprechen, wenn nicht alle ursprünglichen Mietvertragspartner angeschrieben werden, sofern es treuwidrig wäre, sich auf die formale Unwirksamkeit zu berufen. Dies kann der Fall sein, wenn ein Mitmieter seit Jahrzehnten ausgezogen ist und keinerlei schutzwürdige Interessen mehr hat.
Zweitens ist eine Familienplanung ein anerkannter Eigenbedarfsgrund. Vermieter müssen nicht warten, bis das Kind bereits geboren ist. Auch der Wunsch nach mehr Platz für Heimarbeit kann einen Eigenbedarf begründen.
Drittens müssen Vermieter zum Zeitpunkt der Kündigung nicht bereits über alle erforderlichen Baugenehmigungen verfügen, wenn sie vor dem Einzug modernisieren oder sanieren wollen. Die Planungen müssen aber ein Stadium erreicht haben, in dem beurteilt werden kann, ob die Verwirklichung des Plans eine Kündigung rechtfertigt.
Viertens tragen Mieter eine erhebliche Verantwortung, sich aktiv und intensiv um Ersatzwohnraum zu bemühen. Weniger als eine Bewerbung pro Monat über einen Zeitraum von knapp drei Jahren genügt diesen Anforderungen nicht. Mieter sollten alle verfügbaren Kanäle nutzen, realistische Suchkriterien ansetzen und ihre Bemühungen dokumentieren.
Fünftens reichen gesundheitliche Beeinträchtigungen allein nicht aus, um eine Räumung zu verhindern. Mieter müssen konkret darlegen und nachweisen, dass ein Umzug aus gesundheitlichen Gründen unmöglich ist und negative Auswirkungen auf den Gesundheitszustand hätte. Dabei ist auch zu berücksichtigen, ob Familienangehörige beim Umzug helfen können.
Das Gericht gewährte den Mietern eine Räumungsfrist von vier Monaten. Dies erschien angemessen, obwohl die Vormieter bereits seit 2016 und die jetzigen Eigentümer seit 2022 auf den Auszug warteten. Das Gericht berücksichtigte dabei die Krebserkrankung und die Chemotherapie sowie die Tatsache, dass die Mieter ihren Suchradius erweitert hatten.
Für Vermieter bedeutet das Urteil, dass sie ihre Eigenbedarfskündigung sorgfältig begründen und ihre Planungen ausreichend konkretisieren müssen. Für Mieter zeigt der Fall, dass sie sich nicht auf formale Unwirksamkeitsgründe verlassen können, wenn diese offensichtlich nicht dem Sinn und Zweck des Mieterschutzes entsprechen. Zudem müssen sie ihre Pflicht zur Ersatzwohnraumsuche ernst nehmen und können sich nicht allein auf schwierige Marktbedingungen berufen.
Quelle:
Landgericht Darmstadt, Urteil vom 29.04.2025, Az. 30 S 59/25
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