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Modernisierung bedeutet nicht automatisch Auszug

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Duldungspflicht verpflichtet Mieter nur in Ausnahmefällen zur Räumung der Wohnung. Vermieter müssen auf besondere Bedürfnisse ihrer Mieter Rücksicht nehmen - auch ohne fristgerechten Härteeinwand. Das Landgericht Berlin II hat mit einem wegweisenden Urteil klargestellt, dass Mieter auch bei umfangreichen Modernisierungsarbeiten grundsätzlich in ihrer Wohnung bleiben dürfen. Die Duldungspflicht bedeutet nicht automatisch, dass Mieter während der Bauarbeiten ausziehen müssen. Besonders bei älteren und gesundheitlich beeinträchtigten Mietern sind deren besondere Bedürfnisse zu berücksichtigen.
alter Mann sitzt am Fenster und schaut auf eine Baustelle vor seinem Haus
Symbolbild: KI-generiertes Bild

Der Fall: Langjähriger Mieter soll für Modernisierung ausziehen

Ein hochbetagter Mieter bewohnte seit fast 50 Jahren ein Reihenhaus in einer denkmalgeschützten Berliner Siedlung. Bereits seit seiner Geburt lebte er in dem Haus, zunächst mit seinen Eltern, später als eigenständiger Mieter. Die Vermieterin kündigte umfangreiche Modernisierungs- und Instandsetzungsmaßnahmen an und wurde in einem vorherigen Verfahren zur Duldung der Arbeiten verurteilt.

Als die Umsetzung der Maßnahmen anstand, forderte die Vermieterin den inzwischen 85-jährigen Mieter auf, die Wohnung während der Bauarbeiten vollständig zu räumen. Sie argumentierte, dass aufgrund des Umfangs der Maßnahmen eine Bewohnbarkeit während der Bauphase nicht gegeben sei. Der Mieter sollte in eine von der Vermieterin angebotene Ersatzwohnung umziehen.

Härteeinwand wegen gesundheitlicher Probleme

Der betagte Mieter widersprach der Räumungsaufforderung und berief sich auf eine Härtefallregelung. Ein Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie bestätigte, dass bei dem Mieter ein reaktiv-depressives Syndrom vorliege. Die gesundheitlichen Beeinträchtigungen würden einen Umzug zu einer unzumutbaren Belastung machen.

Die Vermieterin wies diesen Härteeinwand zurück und kündigte das Mietverhältnis fristlos. Sie argumentierte, der Mieter verweigere die Durchführung der rechtskräftig angeordneten Modernisierungsarbeiten und verstoße damit schwerwiegend gegen seine mietvertraglichen Pflichten.

Amtsgericht gibt Vermieterin zunächst Recht

Das erstinstanzlich zuständige Amtsgericht gab der Räumungsklage statt. Es sah in der Verweigerung der Modernisierungsarbeiten eine gravierende Vertragsverletzung, die eine fristlose Kündigung rechtfertige. Der Mieter wurde zur Räumung der Wohnung verurteilt und erhielt eine Räumungsfrist von drei Monaten.

Das Gericht argumentierte, dass die Missachtung eines rechtskräftigen Duldungsurteils ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung sei. Der Vermieterin sei ein Festhalten am Mietverhältnis nicht zumutbar, da weitere Verzögerungen zu einer Verschlechterung der Gebäudesubstanz führen könnten.

Landgericht korrigiert Entscheidung

Das Landgericht Berlin II hob diese Entscheidung auf und wies die Räumungsklage vollständig ab. Die Richter stellten klar, dass die rechtlichen Maßstäbe des Amtsgerichts fehlerhaft waren und unzutreffende Tatsachenfeststellungen getroffen wurden.

Das Gericht betonte zwei zentrale Rechtsgrundsätze:

"Ist ein Mieter zur Duldung von Erhaltungs- und Modernisierungsarbeiten verpflichtet, heißt das nicht, dass er die Wohnung auf bloßes Verlangen des Vermieters während der Bauarbeiten räumen muss. Dies gilt umso mehr, wenn es sich um einen alten, gebrechlichen Mieter handelt."

Duldungspflicht bedeutet nur passives Zulassen

Das Landgericht erläuterte ausführlich, was die gesetzliche Duldungspflicht tatsächlich umfasst. Der Begriff der Duldung beinhalte seinem Wortsinn nach kein aktives Tun, sondern beschränke sich auf ein passives Zulassen der Arbeiten. Als aktive Mitwirkungshandlung schulde der Mieter lediglich, Handwerkern nach rechtzeitiger Ankündigung Zutritt zur Wohnung zu gewähren.

Eine Verpflichtung des Mieters, die Wohnung zu verlassen und in eine Ersatzwohnung umzuziehen, komme nur unter sehr engen Voraussetzungen in Betracht. Dies wäre etwa dann der Fall, wenn Erhaltungsmaßnahmen bei einem baufälligen Haus nicht anders durchgeführt werden können.

Solche Ausnahmevoraussetzungen lagen im vorliegenden Fall nicht vor. Die Vermieterin hatte nicht dargelegt, warum die Arbeiten nur bei vollständiger Räumung der Wohnung durchführbar sein sollten.

Rücksichtnahmepflicht des Vermieters

Besonders bedeutsam ist die Feststellung des Gerichts zur Rücksichtnahmepflicht des Vermieters. Diese bestehe unabhängig davon, ob der Mieter fristgerecht einen Härteeinwand erhoben habe. Die Vermieterin sei verpflichtet, bei der Planung und Durchführung der Baumaßnahmen auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des Mieters Rücksicht zu nehmen.

Konkret bedeutet dies, dass Vermieter die individuellen Lebensumstände und Belange des betroffenen Mieters berücksichtigen müssen. Bei einem hochbetagten Mieter, der sein ganzes Leben in der Wohnung verbracht hat, wiegen diese Belange besonders schwer.

Fehlinterpretation des Duldungsurteils

Die Vermieterin hatte ihre Aufforderung zur Räumung auf das vorherige Duldungsurteil gestützt. Das Landgericht stellte jedoch klar, dass dies eine Fehlinterpretation darstellte. Der Mieter war ausschließlich zur Duldung bestimmter Maßnahmen und zur Gewährung des Zutritts verurteilt worden. Eine vorübergehende Räumung war weder beantragt noch angeordnet worden.

Das Gericht kritisierte: "Entgegen ihrer Auffassung folgt ein Fortfall der Bewohnbarkeit keineswegs unmittelbar aus den tenorierten Maßnahmen."

Gesundheitliche Belange müssen berücksichtigt werden

Auch wenn der Härteeinwand möglicherweise verspätet erhoben wurde, müssen die gesundheitlichen Belange des Mieters im Rahmen der Rücksichtnahmepflicht berücksichtigt werden. Die fachärztliche Stellungnahme, die ein reaktiv-depressives Syndrom bestätigte, durfte nicht einfach ignoriert werden.

Die Vermieterin hätte spätestens nach Kenntnis der gesundheitlichen Probleme ihre Bauplanung überprüfen und anpassen müssen. Es sei nicht erkennbar, warum die Bauplanungen "alternativlos" sein sollten.

Verschulden lag bei der Vermieterin

Das Gericht sah das Verschulden eindeutig bei der Vermieterin. Diese habe dem Mieter ohne rechtliche Grundlage massive Aufforderungen zum Auszug gestellt und ihn mit Kündigungsdrohungen unter Druck gesetzt. Der Mieter hingegen habe lediglich von seinen Rechten Gebrauch gemacht.

Die Verzögerungen bei der Umsetzung der Modernisierungsmaßnahmen seien hauptsächlich der Vermieterin anzulasten, die nach der ursprünglichen Ankündigung fast neun Monate mit der Klageerhebung gewartet und nach Abschluss des Verfahrens nochmals über ein Jahr bis zur Umsetzung verstreichen lassen hatte.

Was bedeutet das Urteil für Sie?

Für Mieter:

  • Die Duldungspflicht bei Modernisierungsarbeiten bedeutet nicht automatisch, dass Sie ausziehen müssen
  • Sie können grundsätzlich in Ihrer Wohnung bleiben und müssen nur den notwendigen Zutritt gewähren
  • Bei gesundheitlichen Problemen oder besonderen Lebensumständen können Sie sich auf die Rücksichtnahmepflicht des Vermieters berufen
  • Ein verspäteter Härteeinwand schließt die Berücksichtigung Ihrer Belange nicht automatisch aus

Für Vermieter:

  • Planen Sie Modernisierungsmaßnahmen sorgfältig unter Berücksichtigung der Mieterbelange
  • Prüfen Sie alternative Durchführungsmöglichkeiten, die ein Verbleiben des Mieters ermöglichen
  • Berücksichtigen Sie besondere Umstände wie Alter, Gesundheitszustand oder lange Mietdauer
  • Eine vollständige Räumung können Sie nur in wirklichen Ausnahmefällen verlangen

Praktische Tipps:

  • Dokumentieren Sie alle Kommunikation schriftlich
  • Holen Sie bei gesundheitlichen Problemen fachärztliche Stellungnahmen ein
  • Suchen Sie bei Unklarheiten frühzeitig rechtlichen Rat
  • Versuchen Sie zunächst eine einvernehmliche Lösung zu finden

Dieses Urteil stärkt die Position von Mietern erheblich und verdeutlicht, dass Modernisierungsarbeiten in den allermeisten Fällen durchgeführt werden können, ohne dass Mieter ihre gewohnte Umgebung verlassen müssen. Besonders für ältere und gesundheitlich beeinträchtigte Mieter ist dies ein wichtiger Schutz vor unzumutbaren Belastungen.


Quelle: LG Berlin II, Urteil vom 22.10.2024, Az. 65 S 139/24

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