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Eigenbedarf: Kranke Mieterin erhält vorläufigen Schutz vor Räumung

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Eine langjährige Mieterin muss trotz Eigenbedarfskündigung vorerst nicht ausziehen. Der Bundesgerichtshof stellte die Zwangsvollstreckung ein und gewährte der hochbetagten Frau Zeit, ihre Rechtsmittel auszuschöpfen.
Alte Frau sitzt nachdenklich an einem Fenster ihrer Wohnung
Symbolbild: KI-generiertes Bild

Der Fall: Jahrzehntelange Mieterin gegen vierköpfige Familie

Seit dem Jahr 1993 lebte die Mieterin in ihrer Wohnung in Kempten. Die etwa einhundert Quadratmeter große Wohnung war über drei Jahrzehnte ihr Zuhause geworden. Im Dezember 2021 kündigten ihr die Vermieter wegen Eigenbedarfs. Die Wohnung sollte die Tochter der Vermieter mit ihrer vierköpfigen Familie beziehen. Die Familie hatte im Vertrauen auf den Auszug der Mieterin bereits eine andere Wohnung im selben Haus bezogen, die nur rund vierzig Quadratmeter groß war. Diese kleine Wohnung hatten die Vermieter der Mieterin zuvor als Alternative angeboten.

Die im Jahr 1938 geborene Mieterin wehrte sich gegen die Kündigung. Sie berief sich auf eine Härte wegen ihres hohen Alters und ihrer gesundheitlichen Situation. Die Frau legte ärztliche Atteste vor und machte geltend, dass ein Umzug für sie gesundheitlich nicht zumutbar sei. Trotzdem verurteilten sowohl das Amtsgericht als auch das Landgericht die Mieterin zur Räumung und Herausgabe der Wohnung. Das Landgericht wies auch ihren Antrag auf Vollstreckungsschutz zurück.

Die Argumentation der Gerichte

Das Berufungsgericht sah die Eigenbedarfskündigung als rechtswirksam an. Die Vermieter benötigten die Wohnung tatsächlich für ihre Tochter und deren Familie. Diese lebten bereits unter beengten Verhältnissen in der vierzig Quadratmeter großen Ersatzwohnung. Das Gericht hielt den geltend gemachten Eigenbedarf für nachvollziehbar und berechtigt.

Bei der Prüfung der Härte sah das Landgericht jedoch einen entscheidenden Widerspruch im Vorbringen der Mieterin. Einerseits argumentierte diese, sie könne aus gesundheitlichen Gründen nicht umziehen und sei völlig umzugsunfähig. Andererseits hatte bereits das Amtsgericht verbindlich festgestellt, dass die Mieterin plane, in zwei bis vier Jahren in eine Einrichtung für Betreutes Wohnen umzuziehen. Sie wolle lediglich vermeiden, zweimal innerhalb kurzer Zeit umziehen zu müssen.

Das Berufungsgericht stellte fest: Wer plant, in absehbarer Zeit umzuziehen, muss grundsätzlich auch umzugsfähig sein. Dieser Widerspruch führte dazu, dass das Gericht auf die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens verzichtete. Es hielt die gesundheitliche Situation der Mieterin in diesem besonderen Einzelfall für nicht entscheidungserheblich. Der Härteeinwand wurde daher zurückgewiesen.

Der Antrag auf einstweiligen Vollstreckungsschutz

Gegen die Entscheidung des Landgerichts legte die Mieterin Nichtzulassungsbeschwerde zum Bundesgerichtshof ein. Gleichzeitig beantragte sie die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung. Sie wollte verhindern, dass sie noch vor der endgültigen Entscheidung des höchsten Gerichts ihre Wohnung räumen muss.

Der Bundesgerichtshof musste nun abwägen: Wessen Interessen wiegen schwerer? Die der Mieterin, die seit über dreißig Jahren in ihrer Wohnung lebt, hochbetagt und nach eigenem Vorbringen gesundheitlich beeinträchtigt ist? Oder die der Vermieterfamilie, deren Tochter mit Ehemann und zwei minderjährigen Kindern auf engem Raum ausharren muss?

Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs

Der achte Zivilsenat des Bundesgerichtshofs gab dem Antrag der Mieterin statt und stellte die Zwangsvollstreckung vorläufig ein. Die Mieterin muss also vorerst nicht ausziehen. Allerdings knüpfte das Gericht diese Entscheidung an eine Bedingung: Die Mieterin muss ab Mai 2025 die vertraglich vereinbarte Monatsmiete einschließlich der Nebenkostenvorauszahlung weiterhin pünktlich zahlen.

Die Begründung des Gerichts war klar: Der Verlust der Mietwohnung stellt einen unwiederbringlichen Nachteil dar. Dieser Nachteil wiegt schwerer als die Belastung der Vermieterfamilie, auch wenn diese nicht unerheblich ist. Die Tochter der Vermieter muss mit ihrer vierköpfigen Familie weiterhin in der kleinen Wohnung leben, statt auf die größere Wohnung umziehen zu können.

Das Gericht erkannte durchaus an, dass auch die Vermieterseite erhebliche Nachteile erleidet. Eine vierköpfige Familie auf vierzig Quadratmetern unterzubringen, entspricht nicht zeitgemäßen Wohnverhältnissen. Dennoch überwogen nach Ansicht des Bundesgerichtshofs die Nachteile für die Mieterin. Der Verlust einer jahrzehntelang bewohnten Wohnung ist nicht rückgängig zu machen. Einmal aus der Wohnung ausziehen zu müssen, bedeutet in der Regel den endgültigen Verlust des Mietverhältnisses.

Voraussetzungen für den Vollstreckungsschutz

Der Bundesgerichtshof stellte wichtige Grundsätze zum Vollstreckungsschutz auf. Nach der ständigen Rechtsprechung kann sich ein Mieter nur dann auf einen unersetzlichen Nachteil berufen, wenn er bereits in der Berufungsinstanz einen entsprechenden Antrag gestellt hat. Diese Voraussetzung erfüllte die Mieterin. Sie hatte beim Landgericht einen Vollstreckungsschutzantrag gestellt, den das Berufungsgericht jedoch durch ein Ergänzungsurteil zurückgewiesen hatte.

Die Mieterin konnte sich daher auf diesen Nachteil berufen. Grundsatz ist: Nachteile, die der Mieter selbst vermeiden kann, gelten nicht als unersetzlich. Wer keinen Vollstreckungsschutzantrag in der Berufungsinstanz stellt, kann sich später nicht darauf berufen, die Zwangsvollstreckung bringe ihm einen nicht zu ersetzenden Nachteil.

Darüber hinaus prüfte der Bundesgerichtshof, ob die Nichtzulassungsbeschwerde überhaupt Erfolgsaussichten hat. Eine einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung setzt nämlich voraus, dass das eingelegte Rechtsmittel Aussicht auf Erfolg hat. Dies bejahte das Gericht im vorliegenden Fall. Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass die Nichtzulassungsbeschwerde in der Sache Erfolg haben wird.

Besonders interessant ist dabei die Frage des vom Berufungsgericht festgestellten Widerspruchs. Das Landgericht hatte auf ein medizinisches Sachverständigengutachten verzichtet, weil es den Sachvortrag der Mieterin für widersprüchlich hielt. Der Bundesgerichtshof ließ offen, ob diese Vorgehensweise rechtlich haltbar ist. Diese Frage wird nun im weiteren Verfahren zu klären sein.

Was bedeutet das Urteil für Sie?

Diese Entscheidung zeigt, wie komplex die Interessenabwägung bei Eigenbedarfskündigungen sein kann. Selbst wenn die Eigenbedarfskündigung an sich rechtmäßig ist, kann ein Mieter unter bestimmten Voraussetzungen vorläufigen Schutz vor der Räumung erlangen.

Für Mieter bedeutet das Urteil: Wer sich gegen eine Eigenbedarfskündigung zur Wehr setzen will und Härten geltend macht, sollte unbedingt schon in der Berufungsinstanz einen Vollstreckungsschutzantrag stellen. Nur dann kann man sich später vor dem Bundesgerichtshof auf einen unersetzlichen Nachteil berufen. Der bloße Hinweis auf Alter oder Krankheit reicht nicht aus. Wichtig ist auch, in sich schlüssig zu argumentieren. Wer einerseits behauptet, nicht umzugsfähig zu sein, andererseits aber einen baldigen Umzug plant, macht sich angreifbar.

Für Vermieter bedeutet das Urteil: Selbst bei berechtigtem Eigenbedarf und erfolgreichem Räumungsurteil kann sich die tatsächliche Durchsetzung verzögern. Wenn der Mieter Härten geltend macht und alle prozessualen Möglichkeiten ausschöpft, kann die Wohnungsübergabe noch Monate oder sogar Jahre auf sich warten lassen. Die Vermieter hatten der Mieterin zwar zahlreiche Ersatzwohnungen angeboten, was die Rechtsprechung von Vermietern durchaus fordert. Dennoch reichte dies nicht aus, um eine sofortige Räumung zu erreichen.

Die Entscheidung unterstreicht, dass der Verlust der eigenen Wohnung vom Gesetz und von den Gerichten als besonders schwerwiegender Eingriff angesehen wird. Dies gilt insbesondere bei langjährigen Mietverhältnissen und wenn der Mieter hochbetagt ist. Die Gerichte nehmen hier eine sehr sorgfältige Einzelfallprüfung vor und gewähren im Zweifel eher vorläufigen Schutz, damit die höchste Instanz die rechtlichen Fragen abschließend klären kann.

Ein wichtiger verfahrensrechtlicher Aspekt ist zudem die Frage, wann auf ein Sachverständigengutachten verzichtet werden kann. Das Berufungsgericht hatte argumentiert, der widersprüchliche Vortrag mache ein Gutachten entbehrlich. Ob diese Argumentation tragfähig ist oder ob bei gesundheitlichen Härteeinwänden grundsätzlich ein Gutachten erforderlich ist, bleibt vorerst offen. Hier könnte sich in der weiteren Entscheidung des Bundesgerichtshofs noch Klärungsbedarf ergeben.

Bis zur endgültigen Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde darf die Mieterin in ihrer Wohnung bleiben, muss aber die Miete vollständig und pünktlich zahlen. Damit wird sichergestellt, dass die Vermieter zumindest die Mieteinnahmen erhalten, auch wenn sie die Wohnung noch nicht ihrer Tochter zur Verfügung stellen können.


Quelle: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 08.04.2025, Az. VIII ZR 17/25

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