Überhängende Äste abschneiden: Was ist erlaubt?


Der Fall: Jahrzehntelanger Nachbarschaftsstreit wegen Schwarzkiefer
In dem entschiedenen Fall stritten sich zwei Nachbarn in Berlin über eine etwa 15 Meter hohe Schwarzkiefer. Der Baum stand seit rund 40 Jahren unmittelbar an der Grundstücksgrenze und ragte mit seinen Ästen seit mindestens 20 Jahren auf das Nachbargrundstück hinüber. Dort fielen kontinuierlich Nadeln und Zapfen herab, die nach Ansicht des betroffenen Nachbarn eine erhebliche Beeinträchtigung darstellten.
Die herabfallenden Nadeln sammelten sich auf seiner Terrasse und dem Wintergarten an schwer zugänglichen Stellen. Zudem behauptete er, dass die Menge der ganzjährig fallenden Nadeln das Wachstum anderer Pflanzen unterhalb der Kiefer unmöglich mache und den Boden säuere. Nachdem seine Aufforderung zum Rückschnitt erfolglos blieb, griff er zur Selbsthilfe und schnitt die überhängenden Zweige eigenständig ab.
Streitpunkt: Welches Recht gilt bei mittelbaren Beeinträchtigungen?
Die Baumbesitzer verklagten daraufhin ihren Nachbarn und verlangten, dass er es künftig unterlässt, Zweige oberhalb von fünf Metern abzuschneiden. Sie argumentierten, dass nicht das Selbsthilferecht nach Paragraph 910 des Bürgerlichen Gesetzbuchs greife, sondern die strengeren Regeln des Immissionsrechts nach Paragraph 906 BGB.
Das Berufungsgericht gab den Baumbesitzern zunächst Recht. Es unterschied zwischen unmittelbaren Beeinträchtigungen durch die physische Anwesenheit der Äste und mittelbaren Folgen wie dem Nadel- und Zapfenbefall. Für letztere sollten die strengeren Immissionsregeln gelten, wonach solche Beeinträchtigungen wesentlich und nicht ortsüblich sein müssen, damit ein Rückschnitt verlangt werden kann.
Kernfrage der rechtlichen Auseinandersetzung
Der Bundesgerichtshof musste eine zentrale Frage des Nachbarrechts klären: Dürfen Grundstückseigentümer überhängende Äste auch dann abschneiden, wenn dadurch der Baum des Nachbarn schweren Schaden nimmt oder sogar abstirbt? Diese Frage war in der Rechtsprechung umstritten und hatte erhebliche praktische Bedeutung für Millionen von Grundstückseigentümern.
BGH-Entscheidung: Umfassendes Selbsthilferecht bestätigt
Der Bundesgerichtshof hob das Berufungsurteil auf und stellte klar, dass Paragraph 910 BGB eine abschließende Spezialregelung für alle Probleme mit überhängenden Ästen darstellt. Diese Vorschrift erfasst sowohl die unmittelbaren Beeinträchtigungen durch die physische Anwesenheit der Äste als auch mittelbare Folgen wie herabfallende Nadeln, Blätter oder Früchte.
Keine Anwendung des Immissionsrechts
Die Karlsruher Richter machten deutlich, dass die strengeren Regeln des Immissionsrechts nach Paragraph 906 BGB nicht gelten, wenn es um überhängende Äste geht. Das Selbsthilferecht des Paragraph 910 BGB sei eine bewusst einfach gehaltene Regelung, die eine rasche Erledigung von Nachbarschaftsstreitigkeiten ermöglichen soll.
Der Gesetzgeber habe sich bewusst für eine unkomplizierte Lösung entschieden, die nicht durch komplizierte Verhältnismäßigkeitsprüfungen oder Abwägungen belastet werden sollte. Eine solche Prüfung würde dem Ziel einer einfachen und verständlichen Ausgestaltung des Selbsthilferechts zuwiderlaufen.
Selbsthilferecht gilt auch bei Baumschäden
Besonders weitreichend ist die Entscheidung des BGH zur Frage, ob das Selbsthilferecht ausgeschlossen ist, wenn durch das Abschneiden der Äste der Baum absterben könnte oder seine Standfestigkeit verliert. Hier erteilte der Bundesgerichtshof einer in der Literatur und unteren Instanzen verbreiteten Auffassung eine klare Absage.
Verantwortung liegt beim Baumbesitzer
Der BGH betonte, dass Paragraph 910 BGB die Verantwortung dafür, dass Baumwurzeln oder Zweige nicht über die Grundstücksgrenzen hinauswachsen, dem Eigentümer des Grundstücks zuweist, auf dem der Baum steht. Dieser sei zur ordnungsgemäßen Bewirtschaftung seines Grundstücks verpflichtet und müsse rechtzeitig für einen sachgerechten Rückschnitt sorgen.
Kommt der Baumbesitzer dieser Verpflichtung nicht nach und lässt er die Zweige über die Grundstücksgrenze wachsen, könne er später nicht unter Verweis auf mögliche Baumschäden von seinem Nachbarn verlangen, das Abschneiden zu unterlassen und die Beeinträchtigung hinzunehmen.
Grenzen durch Naturschutzrecht
Dennoch setzte der Bundesgerichtshof dem Selbsthilferecht wichtige Grenzen. Das öffentliche Naturschutzrecht, einschließlich Landes- und Gemeinderecht, kann dazu führen, dass die Ausübung des Selbsthilferechts gehindert ist. Insbesondere sind die Verbote wirksamer Baumschutzsatzungen auch von dem betroffenen Nachbarn zu beachten.
Prüfung von Ausnahmegenehmigungen
Keinen Einschränkungen unterliegt die Befugnis zur Ausübung des Selbsthilferechts hingegen, wenn der beeinträchtigte Grundstückseigentümer mit Erfolg eine Ausnahmegenehmigung für die Beseitigung der Störungsquelle beantragen kann. Die Zivilgerichte müssen sowohl das Bestehen eines naturschutzrechtlichen Verbots als auch die Möglichkeit einer Ausnahmegenehmigung selbständig prüfen.
Da das Berufungsgericht diese naturschutzrechtlichen Aspekte nicht geprüft hatte, verwies der BGH den Fall zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurück. Das Gericht muss nun klären, ob die betreffende Schwarzkiefer nach der Berliner Baumschutzverordnung geschützt ist und welche Konsequenzen sich daraus ergeben.
Was bedeutet das Urteil für Sie?
Diese Entscheidung des Bundesgerichtshofs hat weitreichende praktische Auswirkungen für alle Grundstückseigentümer in Deutschland. Wenn Sie von überhängenden Ästen des Nachbarn betroffen sind, haben Sie grundsätzlich das Recht zur Selbsthilfe - auch wenn dadurch der Baum beschädigt wird.
Voraussetzungen für das Selbsthilferecht
Zunächst müssen Sie dem Baumbesitzer eine angemessene Frist zur Beseitigung des Überhangs setzen. Erst wenn diese Frist erfolglos verstreicht, dürfen Sie selbst tätig werden. Die überhängenden Äste müssen außerdem objektiv die Benutzung Ihres Grundstücks beeinträchtigen. Dabei kommt es nicht auf Ihr subjektives Empfinden an, sondern auf eine objektive Bewertung der Störung.
Das Urteil macht auch deutlich, dass Sie sich als betroffener Nachbar nicht auf komplizierte Abwägungen oder Verhältnismäßigkeitsprüfungen einlassen müssen. Das Selbsthilferecht ist bewusst einfach ausgestaltet, um eine schnelle Lösung von Nachbarschaftsproblemen zu ermöglichen.
Beachtung des Naturschutzrechts
Allerdings müssen Sie vor jedem Eingriff prüfen, ob der betreffende Baum unter Naturschutz steht. Viele Gemeinden haben Baumschutzsatzungen erlassen, die bestimmte Bäume ab einer gewissen Größe oder bestimmte Baumarten unter Schutz stellen. Ein Verstoß gegen solche Regelungen kann empfindliche Bußgelder zur Folge haben.
Falls der Baum geschützt ist, sollten Sie prüfen, ob eine Ausnahmegenehmigung möglich ist. Gegebenenfalls können Sie selbst eine solche Genehmigung beantragen und bei einer Ablehnung den Verwaltungsrechtsweg beschreiten.
Empfehlungen für Baumbesitzer
Wenn Sie selbst Baumbesitzer sind, sollten Sie das Urteil als Anlass nehmen, Ihre Bäume regelmäßig zu kontrollieren und bei Bedarf fachgerecht zurückzuschneiden. Die Verantwortung dafür, dass Äste nicht über Grundstücksgrenzen hinauswachsen, liegt bei Ihnen als Eigentümer. Ein rechtzeitiger, professioneller Rückschnitt kann nicht nur Nachbarschaftsstreitigkeiten vermeiden, sondern auch die Gesundheit und Standfestigkeit Ihrer Bäume fördern.
Das BGH-Urteil zeigt einmal mehr, wie wichtig ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis ist. Oftmals lassen sich Probleme mit überhängenden Ästen durch frühzeitige Kommunikation und gemeinsame Lösungsansätze vermeiden, bevor es zu rechtlichen Auseinandersetzungen kommt.
Quelle: BGH, Urteil vom 11. Juni 2021 - V ZR 234/19
Kontaktieren Sie uns!
Für detaillierte Fragen oder eine individuelle Beratung stehen Ihnen die Experten unserer Kanzlei für Mietrecht in Essen zur Verfügung. Wir helfen Ihnen, die beste Strategie für Ihr spezifisches Anliegen zu entwickeln.
Ihr Recht ist unsere Leidenschaft!

Sie sind ratlos im Streit mit Ihrem Mieter oder Vermieter? Sie stehen vor komplexen Vertragsverhandlungen oder es geht um den Erwerb, Veräußerung oder Vererbung von Immobilieneigentum. Wir haben uns auf das private und gewerbliche Mietrecht, Immobilienrecht und Maklerrecht spezialisiert. Vertrauen Sie uns. Zögern Sie also nicht länger und holen Sie sich die Unterstützung, die ein professionelles Vorgehen ermöglicht. Lassen Sie uns gemeinsam eine Strategie für die Umsetzung Ihres Vorhabens besprechen.
Unsere digitale Kanzlei

Bei uns geht Recht vollkommen digital. Für Sie entscheidend: Sie können alles bequem von überall aus organisieren. Besuchen Sie unsere Webseite und buchen Sie ein Video-Meeting mit einem Anwalt. Ihre Unterlagen können Sie einfach uploaden. Selbst erforderliche Unterschriften können Sie bei uns digital leisten.
kostenlose Ersteinschätzung

Lassen Sie uns bei einem unverbindlichen Kennenlerngespräch über Ihre spezifischen rechtlichen Anliegen sprechen.
Das könnte Sie auch interessieren:
-ed79a4cd.webp)
Erleichterte Kündigung – Alles, was Mieter und Vermieter wissen müssen

Alles, was Sie über Eigenbedarfskündigungen wissen müssen

Was, wenn ich mir keinen Anwalt leisten kann?

Wohnungsmietvertrag kündigen – ein Leitfaden für Mieter und Vermieter
