Wann haftet der Verkäufer bei verzögerter Lastenfreiheit?


Der Streitfall: Verzögerung durch hartnäckiges Wegerecht
Die Ausgangslage war komplex: Eine Käuferin hatte 2013 ein Grundstück von einer Stadt erworben und verkaufte einen Teil davon noch im selben Jahr an einen Investor weiter. Der Kaufpreis betrug knapp 250.000 Euro. Das Problem: Auf dem Grundstück lastete ein Wegerecht zugunsten eines Nachbarn, das vor der Übertragung gelöscht werden sollte.
Die notarielle Kaufvertrag sah vor, dass die Lastenfreiheit eine Fälligkeitsvoraussetzung für die Kaufpreiszahlung darstellte. Der Käufer war also zur Vorleistung verpflichtet - er sollte erst zahlen, wenn das Grundstück lastenfrei war.
Langwieriger Rechtsstreit um Wegerecht
Was zunächst als Formsache erschien, entwickelte sich zu einem jahrelangen Rechtsstreit. Der Wegerrechtsberechtigte weigerte sich hartnäckig, der Löschung zuzustimmen. Die Verkäuferin musste zusammen mit der ursprünglichen Verkäuferin, der Stadt, vor Gericht ziehen.
Erst 2016 - drei Jahre nach Vertragsschluss - konnte das Wegerecht gelöscht werden. Dies geschah durch einen Vergleich vor dem OLG Hamm, bei dem 10.000 Euro an den Wegerechtsberechtigten gezahlt und die Unterhaltung der Zuwegung übernommen wurde.
Schadensersatzforderung in sechsstelliger Höhe
Der Käufer sah sich durch die Verzögerung erheblich geschädigt. Er bezifferte seinen Schaden auf knapp 190.000 Euro. Dieser setzte sich zusammen aus entgangenen Mieteinnahmen über 28 Monate Verzögerung, Baukostensteigerungen während der Wartezeit sowie verschiedenen Nebenkosten.
Seine Argumentation: Die Verkäuferin hätte die Lastenfreiheit bis zum ursprünglich vorgesehenen Termin im April 2014 herstellen müssen und sei seit diesem Zeitpunkt in Verzug gewesen.
Landgericht gibt Käufer Recht - OLG dreht Entscheidung
Das Landgericht Bielefeld folgte zunächst der Argumentation des Käufers. Es sah die Verkäufferin ab April 2014 im Verzug mit ihrer Verpflichtung zur Lastenfreistellung und sprach dem Käufer den vollen Schadensersatz zu.
Das OLG Hamm kam jedoch zu einem völlig anderen Ergebnis und hob das Urteil auf. Die Richter wiesen die Klage vollständig ab - der Käufer ging leer aus.
Die Begründung des OLG: Vorleistungspflicht schützt Verkäufer
Das OLG Hamm begründete seine Entscheidung mit mehreren zentralen Argumenten:
Keine fällige Forderung bei Vorleistungspflicht
"Bei Vorleistungspflicht des Käufers entsteht kein durchsetzbarer Anspruch auf lastenfreie Übertragung vor Kaufpreiszahlung", so die Richter. Da die Lastenfreiheit eine Fälligkeitsvoraussetzung für die Kaufpreiszahlung war, konnte der Käufer keine vorzeitige Herstellung der Lastenfreiheit verlangen.
Vertragskonstruktion schützt beide Seiten
Die gewählte Vertragskonstruktion diene dem Schutz beider Vertragsparteien. Der Verkäufer müsse nicht ungesichert in Vorleistung treten, während der Käufer durch die Lastenfreiheitsklausel geschützt sei. Eine andere Auslegung würde zu ungesicherten Vorleistungspflichten des Verkäufers führen.
Anwendung der Unsicherheitseinrede
Das Gericht wandte § 321 BGB (Unsicherheitseinrede) entsprechend an. Diese Vorschrift regelt, welche Rechte einem vorleistungspflichtigen Vertragspartner zustehen, wenn erkennbar wird, dass die Gegenpartei ihre Vertragspflichten nicht erfüllen kann.
Praktische Konsequenzen für Käufer
Der Käufer hätte nach Ansicht des Gerichts andere Wege gehen müssen:
Fristsetzung und Rücktritt: Statt Schadensersatz zu verlangen, hätte er der Verkäufferin eine angemessene Frist zur Herstellung der Lastenfreiheit setzen können. Nach erfolglosem Fristablauf hätte er vom Vertrag zurücktreten können. Alternativ hätte er eine Sicherheitsleistung für die Erfüllung der Vertragspflichten verlangen können.
Grenzen der Leistungstreuepflicht und notarielle Praxis
Besonders bedeutsam ist die Klarstellung des OLG zur vertraglichen Leistungstreuepflicht. Zwar trifft jeden Vertragspartner grundsätzlich die Pflicht, den Vertragszweck nicht zu gefährden. Diese kann jedoch nicht dazu genutzt werden, die gesetzlichen Regelungen zu umgehen. "Die Rechtsfolgen des § 321 BGB dürfen nicht durch Schadensersatzansprüche wegen Verletzung der Leistungstreuepflicht konterkariert werden", stellte das Gericht klar.
Das Urteil hat erhebliche Auswirkungen auf die notarielle Beratungspraxis. Notare müssen Käufer noch deutlicher über die Risiken bei Vorleistungspflicht aufklären. Die Verzögerung bei der Lastenfreistellung kann zu erheblichen wirtschaftlichen Nachteilen führen, ohne dass automatisch Schadensersatzansprüche entstehen. In risikobehafteten Fällen sollten alternative Vertragsgestaltungen erwogen werden, wie etwa eine Zug-um-Zug-Abwicklung mit Notaranderkonto, konkrete Fristen für die Lastenfreistellung oder vertraglich vereinbarte Schadensersatzpauschalen.
Haftungsrisiken und praktische Empfehlungen
Das Urteil bedeutet nicht, dass Verkäufer völlig schadlos bleiben. Haftungsrisiken bestehen weiterhin bei vertragswidriger Verweigerung, wenn der Verkäufer die Mitwirkung an der Lastenfreistellung verweigert oder nicht alle zumutbaren Anstrengungen unternimmt. Auch bei besonderer Vertragsgestaltung mit ausdrücklich vereinbarten Terminen oder Schadensersatzklauseln für Verzögerungen sowie bei arglistiger Täuschung, wenn der Verkäufer Hindernisse bei der Lastenfreistellung verschweigt, bleibt die Haftung bestehen.
Für Käufer bedeutet dies, die Risiken der Vorleistungspflicht genau prüfen zu lassen und bei kritischen Lasten alternative Vertragsgestaltungen zu erwägen. Im Verzögerungsfall sollten Sie schnell rechtliche Beratung einholen sowie Fristen setzen und gegebenenfalls den Rücktritt erwägen. Verkäufer können sich auf die Schutzwirkung der Vorleistungspflicht verlassen, sollten dennoch alle zumutbaren Anstrengungen zur Lastenfreistellung unternehmen und Transparenz über mögliche Hindernisse schaffen.
Fazit: Ausgewogene Interessenabwägung
Das OLG Hamm hat mit seinem Urteil eine ausgewogene Interessenabwägung vorgenommen. Während Käufer nicht automatisch bei jeder Verzögerung Schadensersatz verlangen können, bleiben ihnen andere Rechtsmittel wie Rücktritt oder Sicherheitsleistung.
Die Entscheidung stärkt die Rechtssicherheit bei Grundstückskäufen und macht deutlich: Wer sich für eine Vorleistungspflicht entscheidet, muss auch die damit verbundenen Risiken tragen. Umso wichtiger wird die qualifizierte notarielle Beratung über alternative Gestaltungsmöglichkeiten.
Für die Praxis bedeutet dies: Vorausschauende Vertragsgestaltung ist wichtiger denn je. Beide Seiten sollten sich über die Konsequenzen ihrer Vereinbarungen im Klaren sein und gegebenenfalls zusätzliche Sicherungsmechanismen einbauen.
Quelle: OLG Hamm, Urteil vom 07.03.2024 - 22 U 86/23
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