Suizidale Mieter können Kündigungsschutz geltend machen


Wenn die Wohnung zur Überlebensfrage wird
Ein außergewöhnlicher Rechtsstreit vor dem Landgericht Berlin verdeutlicht, wie weit der Schutz von Mietern in besonderen Härtefällen reichen kann. Obwohl der Vermieter wirksam gekündigt hatte, durfte der betroffene Mieter in seiner Wohnung bleiben - weil ein erzwungener Auszug mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Suizid geführt hätte.
Der Fall zeigt eindrucksvoll, dass das deutsche Mietrecht auch in extremen Situationen die Menschenwürde und das Recht auf körperliche Unversehrtheit über die Eigentumsrechte des Vermieters stellt. Dabei musste das Gericht eine schwierige Abwägung zwischen den berechtigten Interessen beider Parteien vornehmen.
Ein komplexer Sachverhalt mit tragischen Elementen
Die Ausgangslage war bereits emotional belastet: Der Mieter bewohnte seit September 2009 gemeinsam mit seiner Ehefrau eine Wohnung in Berlin. Nach dem Tod seiner Frau, die gleichzeitig die Schwiegermutter des Vermieters war, kündigte dieser das Mietverhältnis im Januar 2020. Die Kündigung erfolgte zunächst wegen Eigenbedarfs, später berief sich der Vermieter auf einen anderen Kündigungsgrund.
Der Mieter widersprach der Kündigung rechtzeitig und berief sich auf einen Härtefall. Er argumentierte, dass ein erzwungener Auszug für ihn unzumutbar sei und mit erheblichen gesundheitlichen Risiken verbunden wäre. Das Amtsgericht hatte zunächst der Räumungsklage stattgegeben, doch in der Berufungsinstanz wendete sich das Blatt.
Die medizinische Begutachtung als Wendepunkt
Das Landgericht holte ein ausführliches psychiatrisches Gutachten ein, das den Kern der Entscheidung bilden sollte. Der Sachverständige diagnostizierte bei dem mittlerweile 76-jährigen Mieter ein komplexes Krankheitsbild mit körperlichen und psychischen Komponenten. Neben verschiedenen körperlichen Leiden wurde eine mittelgradige depressive Episode festgestellt.
Besonders bedeutsam war die Einschätzung des Gutachters zur emotionalen Bindung des Mieters an seine Wohnung. Nach dem Tod seiner Ehefrau, zu der er in einer symbiotischen Beziehung gestanden hatte, wurde die Wohnung zum letzten verbliebenen Anker seines Lebens. Der Sachverständige kam zu dem Schluss, dass ein erzwungener Wohnungswechsel mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einer gravierenden Verschlechterung des psychischen Zustands führen würde.
Wenn therapeutische Hilfe an ihre Grenzen stößt
Entscheidend für das Urteil war auch die Feststellung, dass alle therapeutischen Möglichkeiten bereits ausgeschöpft waren. Der Mieter befand sich bereits in fachpsychiatrischer Behandlung, erhielt Gesprächstherapie und wurde medikamentös mit Antidepressiva behandelt. Dennoch sah der Sachverständige keine Möglichkeit einer nachhaltigen Besserung.
Die Ankündigung des Mieters, sich bei einer drohenden Räumung das Leben zu nehmen, wurde vom Gutachter ernst genommen. Obwohl solche Äußerungen zunächst manipulativ wirken könnten, seien sie im Zusammenhang mit der depressiven Grunderkrankung und der Persönlichkeitsstruktur des Mieters als reale Gefahr einzustufen.
Das Gericht wägt zwischen Leben und Eigentumsrechten ab
Das Landgericht musste eine schwierige Interessenabwägung vornehmen. Auf der einen Seite standen die berechtigten Eigentumsinteressen des Vermieters, der seine Wohnung zurückerhalten wollte. Auf der anderen Seite ging es um das Recht des Mieters auf körperliche Unversehrtheit und letztendlich um sein Leben.
Das Gericht betonte, dass der unbestimmte Rechtsbegriff der "Härte" alle Nachteile wirtschaftlicher, gesundheitlicher oder persönlicher Art erfasst, die durch eine Vertragsbeendigung auftreten können. Diese müssen sich jedoch deutlich von den üblichen Unannehmlichkeiten eines Wohnungswechsels abheben.
Eine Fortsetzung mit Bedingungen
Die Richter entschieden, dass das Mietverhältnis auf unbestimmte Zeit fortgesetzt wird - allerdings nicht zu den bisherigen Bedingungen. Da die ursprüngliche Miete deutlich unter der ortsüblichen Vergleichsmiete lag, ordnete das Gericht eine schrittweise Erhöhung an. Dabei müssen weder die üblichen Kappungsgrenzen noch die Formalien des Mieterhöhungsrechts beachtet werden.
Diese Lösung zeigt den Kompromisscharakter der gerichtlichen Entscheidung: Der Mieter darf bleiben, muss aber eine angemessene Miete zahlen. Der Vermieter erhält zwar seine Wohnung nicht zurück, wird aber finanziell durch die Mieterhöhung bessergestellt.
Was bedeutet das Urteil für Sie?
Dieses Urteil verdeutlicht, dass der Kündigungsschutz für Mieter auch in extremen Situationen greifen kann. Entscheidend ist jedoch, dass sehr hohe Hürden überwunden werden müssen. Ein einfacher Hinweis auf gesundheitliche Probleme oder die emotionale Bindung zur Wohnung reicht nicht aus.
Vielmehr müssen Mieter nachweisen können, dass ein erzwungener Auszug zu unzumutbaren Härten führen würde, die über das normale Maß hinausgehen. Dabei spielen medizinische Gutachten eine entscheidende Rolle. Auch muss glaubhaft dargelegt werden, dass alle zumutbaren Hilfsmaßnahmen bereits ausgeschöpft sind.
Für Vermieter zeigt der Fall, dass auch bei wirksamen Kündigungen der Erfolg nicht garantiert ist. Bei der Kündigung von langjährigen Mietern, insbesondere älteren oder erkrankten Personen, sollten mögliche Härtefälle von vornherein mitgedacht werden.
Das Urteil macht auch deutlich, dass Gerichte in solchen Fällen kreative Lösungen finden können. Die Fortsetzung des Mietverhältnisses mit angepassten Konditionen zeigt einen pragmatischen Weg auf, wie die Interessen beider Parteien berücksichtigt werden können.
Letztendlich unterstreicht die Entscheidung den hohen Stellenwert, den das deutsche Recht der Menschenwürde und dem Schutz des Lebens einräumt - auch im Verhältnis zwischen Vermietern und Mietern.
Quelle: LG Berlin II, Urteil vom 30.04.2024 - 65 S 14/22
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