Sachverständigengutachten auch bei Mietspiegeln zulässig
Was war der Streitfall?
In diesem Fall ging es um eine Berliner Vierzimmerwohnung mit rund 80 Quadratmetern. Die Vermieterin wollte die Miete deutlich erhöhen und berief sich dabei auf den Berliner Mietspiegel von 2017. Die Mieter widersprachen der Erhöhung, woraufhin die Vermieterin vor Gericht zog.
Das Besondere an diesem Fall: Es lag bereits ein qualifizierter Mietspiegel vor, der tabellarisch verschiedene Mietspannen auswies. Zusätzlich enthielt dieser Mietspiegel eine Orientierungshilfe, die bei der Einordnung in die jeweilige Mietspanne helfen sollte. Trotz dieser umfangreichen Grundlage entschied das Berufungsgericht, einen Sachverständigen zu beauftragen.
Der Weg durch die Instanzen
Amtsgericht lehnt Mieterhöhung ab
Das Amtsgericht Berlin-Schöneberg wies die Klage zunächst ab. Die Richter nutzten den Berliner Mietspiegel und dessen Orientierungshilfe für die Spanneneinordnung. Nach ihrer Einschätzung lag die ortsübliche Vergleichsmiete unterhalb der bereits gezahlten Miete.
Landgericht beauftragt Sachverständigen
Das Landgericht Berlin sah das anders. Es holte ein Sachverständigengutachten zur Höhe der ortsüblichen Vergleichsmiete ein. Der Sachverständige ermittelte anhand von 14 Vergleichswohnungen einen höheren Wert und bestätigte damit die Berechtigung der geforderten Mieterhöhung. Das Landgericht gab der Klage statt.
Die zentrale Rechtsfrage
Die Mieter legten Revision beim Bundesgerichtshof ein. Sie argumentierten, das Berufungsgericht hätte kein Sachverständigengutachten einholen dürfen, da bereits ein qualifizierter Mietspiegel mit Orientierungshilfe vorlag.
Diese Frage ist von großer praktischer Bedeutung: Dürfen Gerichte bei vorhandenen Mietspiegeln trotzdem Sachverständige beauftragen? Oder müssen sie sich auf die Mietspiegel beschränken?
BGH-Entscheidung: Sachverständige auch bei Mietspiegeln zulässig
Der Bundesgerichtshof stellte klar: Gerichte sind grundsätzlich berechtigt, Sachverständigengutachten einzuholen, auch wenn ein Mietspiegel vorliegt. Dies gilt selbst dann, wenn der Mietspiegel tabellarisch Mietspannen ausweist und zusätzlich eine Orientierungshilfe für die Spanneneinordnung enthält.
Verschiedene Ermittlungsmethoden möglich
Die Richter betonten, dass Gerichte bei der Ermittlung der ortsüblichen Vergleichsmiete verschiedene Wege gehen können. Sie sind nicht verpflichtet, ihre Überzeugung ausschließlich auf Mietspiegel zu stützen, selbst wenn diese verfügbar sind.
Wichtig ist dabei: Die Entscheidung zwischen verschiedenen Beweismitteln liegt im Ermessen des Gerichts. Dieses Ermessen kann nur eingeschränkt vom Revisionsgericht überprüft werden.
Der entscheidende Zeitpunkt
Trotz der grundsätzlich positiven Entscheidung für die Vermieterin hob der BGH das Urteil des Landgerichts auf. Der Grund: Ein Fehler bei der Bestimmung des maßgeblichen Stichtags.
Zugang des Erhöhungsverlangens ist entscheidend
Für die Ermittlung der ortsüblichen Vergleichsmiete ist der Zeitpunkt maßgebend, zu dem das Mieterhöhungsverlangen dem Mieter zugeht. Nicht relevant ist der spätere Zeitpunkt, ab dem die erhöhte Miete geschuldet wird.
Die nach dem damaligen Mietrecht relevante Vierjahresfrist erstreckt sich vom Zugang des Erhöhungsverlangens vier Jahre zurück. In diesem Zeitraum müssen die Vergleichsmieten liegen, die für die Ermittlung herangezogen werden.
Auswirkungen des Zeitfehlers
Das Berufungsgericht und der Sachverständige hatten den falschen Zeitpunkt zugrunde gelegt. Dadurch flossen möglicherweise Mietentgelte in die Berechnung ein, die außerhalb des maßgeblichen Vierjahreszeitraums lagen. Der BGH konnte deshalb nicht abschließend beurteilen, ob die geforderte Mieterhöhung berechtigt war.
Sachverständigengutachten im Detail
Anforderungen an Sachverständige
Der BGH nutzte die Gelegenheit, die Anforderungen an Sachverständigengutachten zu präzisieren. Sachverständige müssen eine ausreichend große und repräsentative Stichprobe vergleichbarer Wohnungen verwenden. Aus dieser müssen sie schlüssige und überzeugende Schlussfolgerungen ziehen.
Verschiedene Berechnungsmethoden
Wenn sich nach der Berücksichtigung von Qualitätsunterschieden noch eine breite Marktstreuung der Vergleichsmieten ergibt, stehen verschiedene Ansätze zur Verfügung. Lassen sich keine besonderen Verteilungsmerkmale feststellen, kann der arithmetische Mittelwert verwendet werden.
Mischung aus Neu- und Bestandsmieten
Wichtig ist ein angemessenes Verhältnis von Neuvermietungen und Bestandsmietenänderungen. Der Tatrichter muss darauf achten, dass beide Gruppen angemessen berücksichtigt werden. Ein Missverhältnis liegt erst vor, wenn eine Gruppe gar nicht oder nur vernachlässigbar gering berücksichtigt wird.
Praktische Bedeutung für Mietspiegel
Keine Vorrangstellung von Mietspiegeln
Das Urteil macht deutlich, dass Mietspiegel keine absolute Vorrangstellung haben. Auch qualifizierte Mietspiegel mit umfangreichen Orientierungshilfen können durch Sachverständigengutachten ersetzt oder ergänzt werden.
Flexibilität der Gerichte
Gerichte haben bei der Ermittlung der ortsüblichen Vergleichsmiete erhebliche Flexibilität. Sie können je nach Einzelfall entscheiden, welches Beweismittel am besten geeignet ist. Diese Entscheidung ist nur eingeschränkt überprüfbar.
Was bedeutet das Urteil für Sie?
Für Vermieter
Vermieter haben durch das Urteil bessere Chancen, Mieterhöhungen durchzusetzen. Wenn ein Mietspiegel ungünstige Werte ausweist oder die Einordnung unklar ist, können sie die Beauftragung eines Sachverständigen beantragen.
Wichtig ist dabei die richtige Zeitberechnung: Das Mieterhöhungsverlangen ist der maßgebliche Stichtag für die Vierjahresfrist. Vergleichsmieten aus einem späteren Zeitraum dürfen nicht berücksichtigt werden.
Für Mieter
Mieter können sich nicht mehr darauf verlassen, dass ein vorhandener Mietspiegel automatisch Vorrang hat. Gerichte können trotz qualifizierter Mietspiegel Sachverständige beauftragen.
Mieter sollten aber genau prüfen, ob der Sachverständige den richtigen Betrachtungszeitraum verwendet hat. Fehler bei der Zeitberechnung können zur Aufhebung des Urteils führen, wie dieser Fall zeigt.
Für die Praxis
Das Urteil führt zu mehr Rechtssicherheit bei der Ermittlung von Vergleichsmieten. Die Klarstellung des BGH hilft sowohl Anwälten als auch Gerichten bei der täglichen Arbeit.
Gleichzeitig warnt das Urteil vor Zeitfehlern, die in der Praxis häufig auftreten. Die exakte Bestimmung des maßgeblichen Stichtags wird noch wichtiger.
Ausblick und Einordnung
Das Urteil stärkt die Position von Vermietern bei Mieterhöhungsverfahren. Es zeigt aber auch, wie wichtig die exakte Rechtsanwendung ist. Bereits kleine Fehler bei der Zeitberechnung können zur Aufhebung führen.
Für die Zukunft ist zu erwarten, dass Gerichte häufiger Sachverständige beauftragen werden. Die Flexibilität bei der Beweisaufnahme wird zunehmen, was längere Verfahren zur Folge haben könnte.
Das Urteil unterstreicht auch die Komplexität des Mieterhöhungsrechts. Sowohl Vermieter als auch Mieter sollten sich bei wichtigen Fällen anwaltlich beraten lassen, um Fehler zu vermeiden.
Quelle: Bundesgerichtshof, Urteil vom 28. April 2021, Az. VIII ZR 22/20
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