Radikaler Baumschnitt beim Nachbarn: Wann gibt es Schadensersatz?


Der Fall: Drastischer Baumschnitt in der Schonzeit
Die Eigentümerin eines großen Gartengrundstücks hatte über Jahrzehnte einen wertvollen Baumbestand aufgebaut. Ihr Garten mit altem Baumbestand aus dem Jahr 1956 war aufwendig gestaltet und sollte als Lebensraum für Vögel und andere Kleintiere dienen. Gleichzeitig leistete die naturnahe Gestaltung einen wichtigen Beitrag zur Sauerstoffproduktion im Stadtgebiet.
Der Nachbar hingegen besaß ein deutlich kleineres, enger bebautes Grundstück. Um die Belichtung seines Eigentums zu verbessern, kontaktierte er die Gartenbesitzerin telefonisch. Diese stimmte zu, dass herüberragende Äste zurückgeschnitten werden dürfen.
Der drastische Eingriff erfolgte zur völlig falschen Zeit: Am folgenden Tag - mitten in der Schonzeit für Vögel, in der grundsätzlich keine Schnittarbeiten durchgeführt werden dürfen - betrat der Nachbar in Abwesenheit der Eigentümerin deren Grundstück. Was dann geschah, ging weit über einen normalen Rückschnitt hinaus.
Kahlschlag statt fachgerechtem Rückschnitt
Die Schneidearbeiten hatten verheerende Folgen für drei Gehölze. An der Birke mit einem Stammumfang von 1,5 Metern verblieb nach dem Eingriff kein einziges Blatt. Auch der kurz vor der Ernte stehende Kirschbaum mit einem Stammumfang von 1,35 Metern wurde nahezu vollständig eingekürzt. Ein Holunderstrauch erlitt das gleiche Schicksal.
Das anfallende Schnittgut ließ der Nachbar einfach auf dem fremden Grundstück liegen. Die Eigentümerin musste für dessen Entsorgung über 400 Euro bezahlen. Durch den drastischen Rückschnitt entstand vorübergehend eine Lichtschneise in Richtung des Nachbargrundstücks - genau das, was der Verursacher offenbar bezweckt hatte.
Streit um die richtige Bewertung des Schadens
Die geschädigte Grundstückseigentümerin forderte Schadensersatz in Höhe von über 34.000 Euro. Sie berief sich darauf, dass die Bäume durch den unsachgemäßen Radikalschnitt so erheblich geschädigt seien, dass sie sich nicht wieder erholen würden. Die Wiederherstellungskosten bezifferte sie mit knapp 20.000 Euro für die Birke und fast 15.000 Euro für den Kirschbaum.
Der Nachbar hingegen bestritt vorsätzliches Handeln. Als Laie sei ihm nicht klar gewesen, dass er die Bäume dauerhaft schädigen könnte. Außerdem hätten die Gehölze zwischenzeitlich wieder ausgetrieben, wodurch kein dauerhafter Schaden entstanden sei.
Landgericht: Nur geringe Entschädigung
Das Landgericht Frankfurt sprach der Klägerin lediglich gut 4.000 Euro zu - ein Bruchteil der geforderten Summe. Das Gericht wendete die sogenannte "Methode Koch" zur Wertermittlung an. Bei dieser anerkannten Bewertungsmethode werden die Kosten für Anschaffung, Pflanzung und Pflege sowie das Anwachsrisiko berechnet und kapitalisiert.
Die Richter argumentierten, eine vollständige Naturalrestitution durch das Einsetzen gleichwertiger ausgewachsener Bäume sei unverhältnismäßig teuer. Die Wiederherstellungskosten würden mehr als 700 Prozent des nach der Methode Koch ermittelten Wertes betragen. Üblicherweise reiche bereits eine Überschreitung der 130-Prozent-Schwelle aus, um von Unverhältnismäßigkeit auszugehen.
Oberlandesgericht hebt Urteil auf
Das Oberlandesgericht Frankfurt sah das anders und hob das erstinstanzliche Urteil auf. Die Sache wurde zur erneuten Verhandlung an das Landgericht zurückverwiesen. Die Begründung: Das Landgericht hatte das rechtliche Gehör der Klägerin in entscheidungserheblicher Weise verletzt.
Das Gericht hatte zentrale Streitpunkte nicht aufgeklärt: Insbesondere blieb ungeklärt, ob der Nachbar tatsächlich vorsätzlich und eigenmächtig gehandelt hatte, um sich einen eigenen Vorteil zu verschaffen. Auch die vorgetragenen früheren Konflikte zwischen den Parteien um den Baumbestand wurden nicht näher untersucht.
Kritik an der Sachverständigen-Bewertung
Besonders kritisierte das Oberlandesgericht die unzureichende Auseinandersetzung mit den Einwänden zur sachverständigen Bewertung. Der Sachverständige hatte die Funktionen der beschädigten Bäume nur schlagwortartig als "gestalterisch" und für "Abschirmung und Sichtschutz" beschrieben.
Die vielfältigen ökologischen Funktionen blieben unberücksichtigt: Die Klägerin hatte ausdrücklich dargelegt, dass ihr Garten als Lebensraum für Vögel und andere Tiere dienen sollte. Der Kirschbaum hatte zudem als Nutzgehölz gedient und stand kurz vor der Ernte. Auch die ökologische Bedeutung für das Kleinklima - Verdunstungskühle, Filterfunktion und Luftqualität - fand keine Beachtung.
Bedeutung der Baumfunktion für die Bewertung
Das Oberlandesgericht stellte klar: Die Funktion eines Gehölzes für das konkrete Grundstück ist für die Bewertung nach der Methode Koch von zentraler Bedeutung. Je wichtiger die Funktion eines Baumes, desto größer sollte auch der als Ersatz anzupflanzende Jungbaum sein.
Der Sachverständige hatte für beide geschädigten Bäume lediglich Hochstämme mit einem Stammumfang von 14 bis 16 Zentimetern als Ersatz vorgesehen. Andere Oberlandesgerichte hatten in vergleichbaren Fällen bei Bäumen mit hoher Funktion deutlich größere Neupflanzungen mit Stammumfängen von 25 bis 30 Zentimetern zugrunde gelegt.
Unterschiedliche Bewertungsansätze
Das Urteil verdeutlicht, dass die Rechtsprechung bei der Bewertung von Baumschäden durchaus unterschiedliche Ansätze verfolgt. Während manche Gerichte strikt nach der Methode Koch bewerten und dabei eher kleine Ersatzpflanzungen zugrunde legen, berücksichtigen andere die konkreten Funktionen und den Wert der beschädigten Gehölze stärker.
Entscheidend ist letztlich eine Einzelfallbetrachtung: Bei Bäumen mit besonderer gestalterischer, ökologischer oder wirtschaftlicher Bedeutung können durchaus höhere Entschädigungen gerechtfertigt sein. Das gilt insbesondere dann, wenn der Schädiger vorsätzlich und eigennützig gehandelt hat.
Wann ist Naturalrestitution möglich?
Grundsätzlich ist bei der Zerstörung eines Baumes keine vollständige Naturalrestitution zu leisten, da die Verpflanzung ausgewachsener Bäume meist unverhältnismäßig teuer ist. Ausnahmen gelten jedoch bei besonderen Umständen: Wenn Art, Standort und Funktion des Baumes für einen wirtschaftlich vernünftig denkenden Menschen den Ersatz durch einen gleichartigen Baum nahelegen würden.
Dies kann etwa bei Alleebäumen der Fall sein, wo das einheitliche Bild der Bepflanzung für den Grundstückswert prägend ist. Auch bei Bäumen in botanischen Gärten kann aufgrund ihrer besonderen Funktion eine gleichwertige Neupflanzung in Betracht kommen.
Was bedeutet das Urteil für Sie?
Das Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt sendet ein klares Signal: Wer eigenmächtig und vorsätzlich fremde Bäume beschädigt, muss mit erheblichen Schadensersatzforderungen rechnen. Dabei kommt es nicht nur auf den reinen Sachwert an, sondern auch auf die konkreten Funktionen der geschädigten Gehölze.
Für Grundstückseigentümer bedeutet dies: Bei der Bewertung von Baumschäden sollten alle Funktionen der beschädigten Gehölze geltend gemacht werden - von der gestalterischen über die ökologische bis hin zur wirtschaftlichen Bedeutung. Eine sorgfältige Dokumentation des Baumbestands kann im Schadensfall hilfreich sein.
Nachbarn sollten bei Problemen mit überhängenden Ästen immer das Gespräch suchen und sich an die rechtlichen Vorgaben halten. Eigenmächtige Aktionen können teuer werden - besonders wenn sie vorsätzlich erfolgen und über das erlaubte Maß hinausgehen.
Das Verfahren vor dem Landgericht Frankfurt wird nun neu aufgerollt. Dabei müssen sowohl die Hintergründe des Radikalschnitts als auch die korrekte Bewertung der Baumschäden umfassend aufgeklärt werden. Es bleibt abzuwarten, ob die Grundstückseigentümerin am Ende die von ihr geforderte Entschädigung erhält.
Quelle: OLG Frankfurt, Urteil vom 06.02.2024 - 9 U 35/23
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