Muss eine fremde Abwasserleitung auf eigenem Grundstück geduldet werden?

Der Fall: Nachbarstreit um eine Abwasserleitung
In einem Nachbarschaftsstreit in Baden-Württemberg ging es um ein Doppelhaus, das 1981 auf einem geteilten Grundstück errichtet wurde. Die Eltern des Klägers und die Großeltern des Beklagten waren ursprünglich gemeinsame Eigentümer des Gesamtgrundstücks. Nach der Teilung wurde das östliche Grundstück dem Kläger übertragen, das westliche dem Bruder des Klägers. Dieser übertrug es 2022 seinem Sohn, dem Beklagten.
Seit der Errichtung des Doppelhauses wurde das Grundstück des Beklagten über das tiefer gelegene Grundstück des Klägers entwässert. Die Abwasserleitung führte vom höher gelegenen Grundstück des Beklagten zum Grundstück des Klägers und mündete dort in dessen Abwasserleitung.
Der Auslöser für den Rechtsstreit war ein Rückstau am 7. Mai 2023, durch den der Keller des Klägers unter Wasser gesetzt wurde. Ein Fachunternehmen stellte eine Einwurzelung in der Abwasserleitung fest. Daraufhin forderte der Kläger den Beklagten auf, die Einleitung von Abwasser in seine Leitung zu unterlassen und die zuführende Leitung zurückzubauen.
Die zentrale Rechtsfrage
Die zentrale Frage des Falles lautete: Muss ein Grundstückseigentümer eine fremde Abwasserleitung auf seinem Grundstück dulden, wenn diese ohne dingliche Berechtigung (etwa in Form einer Grunddienstbarkeit) verlegt wurde?
Die Entscheidung des OLG Karlsruhe
Das OLG Karlsruhe (Urteil vom 06.03.2025, Az. 12 U 130/24) entschied zugunsten des Klägers und gab seiner Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil des Landgerichts Karlsruhe statt.
Grundsätzlich kann ein Grundstückseigentümer nach § 1004 Abs. 1 BGB die Beseitigung einer ohne dingliche Berechtigung in seinem Grundstück verlaufenden fremden Abwasserleitung verlangen.
Das Gericht stellte fest, dass unstreitig eine Eigentumsbeeinträchtigung nach § 1004 Abs. 1 BGB vorlag, da die Abwasserleitung des Beklagten auf das Grundstück des Klägers führte und an dessen Abwasserleitung angeschlossen war. Die Abwasserleitung stand nicht im Eigentum des Klägers, sondern gehörte als Zubehör nach § 97 BGB zum Grundstück des Beklagten.
Keine Duldungspflicht für den Grundstückseigentümer
Das OLG prüfte verschiedene mögliche Gründe für eine Duldungspflicht des Klägers, verneinte diese jedoch allesamt:
- Keine dingliche Berechtigung: Eine Dienstbarkeit nach § 1018 BGB oder § 1090 BGB bestand mangels Eintragung im Grundbuch nicht.
- Keine Duldungspflicht nach dem Nachbarrechtsgesetz: Das Grundstück des Beklagten grenzte direkt an die öffentliche Straße. Ein eigener Anschluss an die öffentliche Abwasserleitung wäre daher ohne Inanspruchnahme des Nachbargrundstücks möglich.
- Keine Duldungspflicht aus der Abwassersatzung: Die Satzung der Gemeinde verbot eine separate Entwässerung für das Grundstück des Beklagten nicht.
- Keine schuldrechtliche Gestattung: Zwar hatte es bei der gemeinsamen Planung und Ausführung der Abwasserführung eine zumindest konkludent erklärte Gestattung gegeben. Diese wirkte jedoch nicht gegenüber dem Beklagten als Sonderrechtsnachfolger seines Vaters.
Nachbarliches Rücksichtnahmegebot greift nicht
Das Gericht prüfte auch, ob der Beseitigungsanspruch nach § 242 BGB aufgrund des nachbarschaftlichen Rücksichtnahmegebots ausgeschlossen sein könnte. Dies verneinte das OLG jedoch:
- Der Beklagte könnte die Inanspruchnahme des Nachbargrundstücks vermeiden, indem er eine eigene Abwasserleitung über sein Grundstück zur Straße führt.
- Eine alternative Leitungsführung war weder rechtlich unzulässig noch tatsächlich unmöglich.
- Die vom Beklagten behaupteten hohen Kosten für eine eigene Abwasserleitung wurden nicht konkret dargelegt oder begründet.
Das Gericht berücksichtigte auch, dass der Kläger ein sachliches Interesse an der Beseitigung der Abwasserzuleitung hatte. Aufgrund des Niveauunterschieds der Grundstücke trug er das Risiko von Wasserschäden im Fall eines Rückstaus allein, und die Zuführung des Abwassers vom Grundstück des Beklagten erhöhte die Gefahr eines Kapazitätsengpasses.
Was bedeutet das Urteil für Sie?
- Fehlende Absicherung von Leitungsrechten: Wenn bei einer Grundstücksteilung Leitungen über fremde Grundstücke verlaufen, sollten diese durch eine Grunddienstbarkeit im Grundbuch abgesichert werden. Anderenfalls kann der Eigentümer des belasteten Grundstücks grundsätzlich die Beseitigung verlangen.
- Kein automatischer Bestandsschutz: Bei Grundstückskäufen sollte immer geprüft werden, ob alle Leitungen und Anschlüsse rechtlich abgesichert sind. Eine jahrelang geduldete Situation gibt keine Sicherheit für die Zukunft.
- Regelung bei Rechtsnachfolge beachten: Rein schuldrechtliche Vereinbarungen (wie die Gestattung einer Leitungsführung) wirken nicht automatisch gegenüber Rechtsnachfolgern. Bei Grundstücksübertragungen in der Familie sollten bestehende Nutzungsrechte daher ausdrücklich mit übertragen werden.
- Frist zur Umsetzung: Das OLG gestand dem Beklagten eine Umsetzungsfrist bis zum 01.01.2026 zu. Bei der Durchsetzung von Beseitigungs- und Unterlassungsansprüchen ist eine angemessene Übergangsfrist aus Gründen der nachbarlichen Rücksichtnahme zu gewähren.
Die Entscheidung verdeutlicht, dass das Eigentumsrecht grundsätzlich Vorrang vor praktischen Erwägungen hat. Nur in Ausnahmefällen, wenn ein über die gesetzliche Regelung hinausgehender billiger Ausgleich der widerstreitenden Interessen dringend geboten erscheint, kann eine Duldungspflicht bestehen.
Quelle: OLG Karlsruhe, Urteil vom 06.03.2025, Az. 12 U 130/24
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